Jeder Mensch ist einsam.
Jeder Mensch ist durchschnittlich.
Jeder Mensch macht Fehler.
Jeder Mensch braucht immer wieder Hilfe.
- Außer Kontrolle; Isabelle hat Bulimie von Brigitte Kolloch & Elisabeth Zöller
Als meine Eltern sich trennten - damals war ich acht - brach für mich eine Welt zusammen. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich mich innerlich leer und taub gefühlt habe. Bis heute kenne ich die Gründe für ihre Trennung nicht, von einem Tag auf den nächsten war plötzlich alles anders. Meine Mutter, Schwester und ich zogen aus der Wohnung aus, zu meinen Großeltern. Plötzlich hatte ich nicht mehr nur die Verantwortung für mich selbst, sondern auch für meine kleine Schwester. Einerseits freute ich mich darüber, andererseits machte es mir Angst. Ich lebte immer in meiner eigenen kleinen Welt und jetzt musste ich mich auf einmal auch um jemand anderen kümmern.
Ich erinnere mich noch an ein Ereignis, das ein paar Monate später stattfand. Meine Cousine und ich spielten Modenschau und sie war ein bisschen rundlicher als ich (damals habe ich gegessen wie ein Spatz) und sie beleidigte mich. Bohnenstange oder sowas in der Art, ich weiß nicht mehr. Und dann kam ich auf die dumme Idee, ihr etwas beweisen zu wollen und schrie heraus: "Dafür kann ich fliegen!" Ich nahm Anlauf.
Das Nächste, das ich weiß ist, wie ich im Krankenhaus aufwache, den Arm in einer Schlinge. Keine Ahnung, was passiert ist. Vielleicht bin ich die Treppe runtergefallen, weil ich dachte, wirklich fliegen zu können. Vielleicht hat sie mich geschubst. Ich weiß es nicht.
Zwei Jahre später stehe ich zum ersten Mal weinend vorm Spiegel. Sehe die Rundungen an meinem Körper, kneife mir ins Fleisch. Fett!, denke ich. Dabei war ich (noch) gar nicht wirklich fett, sondern mein Körper hat einfach nur angefangen, sich zu entwickeln. Aber wer ist mit grade mal zehn Jahren darauf vorbereitet? Ich esse noch weniger, wenn ich kann, fange an, Abneigung gegen meinen Körper zu entwickeln. Verschließe mich mehr und mehr, auch um mich vor meinem gewalttätigen Stiefvater zu verstecken. Mein Erzeuger meldet sich nicht mehr. Er liebt(e) mich nicht.
Wieder drei Jahre später. Ich bin aufgegangen wie Hefeteig. Jeden Tag muss ich neue Mobbingattacken über mich ergehen lassen, zu ängstlich, zu schwach um mich zu wehren. Und vor allem stimmte ich ihnen auch zu.
Von da an, versuchte ich immer wieder abzunehmen. Selbst meine Geschwister und meine Mutter nennen mich dick, als ich meine Urgroßmutter nach vier Jahren wiedersehe, sind ihre ersten Worte an mich: "Was bist du denn für ein Kasten geworden?" (Sie war selbst nicht gerade das, was man schlank nennt und stopfte mich immer wieder voll. Heute frage ich mich, ob ich insgeheim Angst davor habe/hatte, so zu werden wie sie).
Der Körper ist nicht mehr als ein Kostüm und kann durch reine Willenskraft verändert werden. Ein neuer Körper würde mich wie ein Kostüm zu einem anderen Menschen machen, einem Menschen, der möglicherweise irgendwann sogar gut wäre.
- Alice im Hungerland von Marya Hornbacher
Die folgenden Jahre versuchte ich wieder abzunehmen. Doch es war nie erfolgreich, ich nahm ab und das Doppelte wieder zu. Ich gab auf. Ich war unglücklich, in meinem Leben lief alles aus dem Ruder und ich ließ es zu, weil ich einfach nicht mehr weiter wusste. Bis dahin hatte ich immer noch die Illusion gehabt, dass aus mir etwas Besonderes werden würde. Doch von dem Zeitpunkt an, als ich mich auch mit meiner Mutter so sehr zerstritt, dass es nie wieder so wurde wie früher, wusste ich, dass ich ein Niemand war und auch bleiben würde.
Bis heute hat sich daran nichts geändert. Ich bin unterdurchschnittlich, ich bin hässlich, fett und ich bin vor allem eins: Einsam. Mein schwieriger Charakter erlaubt es mir nicht, Menschen lange in meiner Nähe sein zu lassen. Und deshalb versuche ich mich zu ändern. Innerlich, aber vor allem äußerlich. Um endlich einmal wieder die Kontrolle über mich zu haben und mich zumindest in meinem Körper wohl zu fühlen. Denn wenn ich jetzt in den Spiegel blicke, sieht mir eine Fremde entgegen. Ich kann mich nicht mit meinem Spiegelbild identifizieren, bin so angeekelt davon, dass ich das Glas in Scherben brechen will.
Tut mir leid, dass ich derzeit soviel schreibe..mein Kopf ist so voller Gedanken, dass ich es los werden muss.

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen